Am/Im/Bei Gericht

Als ich Montag aufstand, ahnte ich noch nicht, dass es eine sehr spannende Woche werden sollte. Bis mittags mein Telefon hektisch klingelte…

Am anderen Ende der Leitung ertönte die Stimme eines befreundeten Redakteurs der städtischen Lokalzeitung. Nach ein bisschen Small Talk kam er denn auch auf den Punkt: Ob ich am Mittwoch im Landgericht sein könne um zu zeichnen? An diesem Tag sollte in Kiel der Prozess gegen einen Mann starten, der im Mai in Kiel-Dietrichsdorf einen Rentner getreten hatte, sodass dieser mit dem Kopf aufschlug und nach ein paar Tagen im Koma schließlich verstarb.

Ich zögerte – um ehrlich zu sein, war ich an diesem Mittag noch nicht sonderlich wach, um klar genug zu denken. Ich zweifelte also erst einmal an, dass ich für diesen Job überhaupt geeignet war. Schließlich hatte ich noch nie am lebenden Objekt gezeichnet, schon gar nicht in freier Wildbahn. Das alles ficht den Schreibspecht nicht an, und so ließ ich mich breitschlagen.

Also machte ich mir panisch Gedanken, wie so ein Einsatz als Gerichtszeichner überhaupt funktioniert. Was wollen die sehen? Was muss ich mitnehmen? Wie ist das überhaupt in so einem Gericht? Was darf ich da und was nicht? Und wie komme überhaupt dahin? Ich war… leicht verplant.

In der Nacht vor dem Termin schlief vor lauter Aufregung fast gar nicht (ja, ist bekloppt, aber bei mir normal), sodass ich mich arg unausgeschlafen auf den Weg zum Kieler Landgericht am Schützenwall machte, den Kopf voller Gedanken, was mich wohl erwarten würde. Bisher kannte ich das Landgericht, wie auch Gerichte allgemein, nur aus dem Fernsehen, sowohl real als auch fiktional.

Als ich das Landgericht betrat, gab es zunächst eine Schleuse mit zwei, drei Justizbeamten, die sich freundlich und entspannt um die Besucher kümmerten. Einmal in die Tasche gucken, durch die Schleuse gehen, fertig. Nebenbei beantworteten sie noch alle meine doofen Fragen (Wo muss ich hin? Und darf ich da zeichnen??), sodass ich dann mit als eine der ersten vor dem Saal 232 rumgammelte. Nach und nach gesellten sich noch weitere Besucher, die Leute von der Presse und auch die ersten Prozessbeteiligten, in diesem Fall die Familie des Getöteten als Nebenkläger nebst Begleitung dazu. Diese wurden schon vor dem Einlass von den Schreiberlingen befragt, wie auch andere Besucher, quasi klassisches Farmen von Infos. Ich möchte fast behaupten, dass die Leute von der Presse mit die größte Gruppe im kleinen Saal stellten. Als die Türen aufgeschlossen wurden, besetzten sie auch sofort die vordersten Reihen, sodass ich am Ende zwischen R.SH und schreibender Zunft vorne saß, direkt an der Seite der Nebenkläger. Solange der Angeklagte noch nicht im Saal war, durfte noch fotografiert werden, sodass in der Mitte des Saals ein eifriges Treiben von Fotografen und NDR-Fernsehteam herrschte.

Nachdem die Fernseh- und Fotoleute draußen,  das Schwurgericht und der Angeklagte (der überraschend adrett und nicht unfreundlich rüberkam) drin waren, begann dann auch die Verhandlung. Für mich wurde es nun spannend. Zum einen lauschte ich gespannt der Anklageverlesung und der klischeebeladenen Lebensgeschichte des Angeklagten (schlimme Kindheit und so), die nahezu komplett und lückenlos aufgedröselt wurde, zum anderen begann ich zu zeichnen. Die eigentliche Zeichnung des Angeklagten hatte ich sogar ziemlich schnell fertig, aber da ich gerne noch ein bisschen bleiben wollte, suchte ich mir noch weitere Protagonisten im Saal als Motiv, während der Prozess weiterlief.

Studien vom Angeklagten und seinem Verteidiger

Studien vom Angeklagten und seinem Verteidiger

Besonders eindrücklich waren für mich dabei die Aussagen der Tochter des Opfers, die jedoch dabei erstaunlich gefasst blieb, während sie bei den Einlassungen des Angeklagten und seiner später als Zeugin vernommenen Ex-Freundin, die sich zunehmendend in Widersprüche verwickelte, deutlich Emotionen zeigte, wie auch ihre Mutter, die neben ihr saß. Schnell wurde auch klar, dass die Beweisführung trotz eines weitgehenden Geständnisses nicht so leicht werden würde wie vielleicht gedacht. So gab es Unklarheiten darüber, ob der verhängnisvolle Tritt wirklich mit Absicht ausgeführt wurde oder ob der Angeklagte der Tochter die Brille wirklich vom Kopf geschlagen hat.

Der Anwalt der Nebenklage und die Tochter der Opfers

Der Anwalt der Nebenklage und die Tochter der Opfers

Die Ex-Freundin schien ihn verteidigen zu wollen, indem sie ihre Aussagen, die sie bei der Polizei gemacht hatte, zurückzog oder abschwächte. Angeblich habe sie zu diesem Zeitpunkt nicht gewusst, dass es sich beim Täter um ihren Ex-Freund handelte und nur von der Polizei weggewollt. Diese Angaben riefen deutliches Misstrauen beim vorsitzenden Richter, dem Staatsanwalt und dem Anwalt der Nebenklage hervor, doch die Frau bestritt vehement, es darauf anzulegen oder sich mit ihrem Ex abgesprochen zu haben.

Nach einer weiteren Zeugin, die leider nicht viel hatte sehen können bzw. sich nicht an viel erinnern konnte, machte ich mich dann aber dennoch auf den Heimweg, denn nach einer gewissen Zeit wird das Zuhören auch anstrengend, zumal im kleinen, aber vollen Saal nicht die beste Luft war. Mein größter Respekt geht daher an den Richter und seine Kollegen, die es irgendwie schafften, durch all die Aktenberge und verwirrenden Aussagen durchzusteigen und auch noch sinnvolle Nachfragen zu stellen.

Der Vorsitzende und der Staatsanwalt, dazu ein Blick auf das Schwurgericht

Der Vorsitzende und der Staatsanwalt, dazu ein Blick auf das Schwurgericht

Leider waren sie zwischendurch auch damit beschäftigt, die Zuschauer hinten im Saal zu maßregeln, da wirklich viel gequatscht wurde, verständlicherweise gerade bei der seltsamen Aussage der Ex-Freundin, die dummerweise auch noch sehr leise sprach, was das Zuhören sehr anstrengend machte. Ein Zuschauer musste den Saal denn auch verlassen, nachdem er sich nicht an das Handyverbot gehalten hatte.

Alles in allem war es für mich wirklich ein spannender Vormittag, trotz allen Stresses und ich bin mit den Zeichnungen auch zufrieden. Hinterher machte ich mich dann gleich auf den Weg in die Redaktion, um meine Zeichnungen vorzuzeigen und das weitere Vorgehen zu besprechen. Nach ein bisschen hin und her einigten wir uns dann auf die Montage zweier Zeichnungen und die Coloration, die ich zuhause anfertigte, scannte und in die Redaktion mailte.

In der Zeitung sah das Ganze am folgenden Tag dann so aus:

Titelseite!

Titelseite!

Am gestrigen Donnerstag wurde der Prozess fortgesetzt (ich war nicht mehr anwesend), unter anderem wurden die Gerichtsmedizinerin und der psychologische Gutachter gehört. Die Plädoyers fielen dabei sehr unterschiedlich aus. Während der Staatsanwalt zwölf Jahre Haft wegen Totschlags forderte, der Anwalt der Nebenklage sogar das Höchstmaß von 15 Jahren, plädierte der Verteidiger auf nur fünf Jahre, da er die Tat nur als Körperverletzung mit Todesfolge einstufte, was ihm lauten Protest der Nebenklage und der Zuschauer einbrachte. (Quelle. KN, Bezahlschranke) Das Urteil soll am Montag verkündet werden.

Update 22.10.13
Gestern Nachmittag wurde das Urteil verkündet: Das Gericht entschied auf Körperverletzung mit Todesfolge und verhängte eine Strafe von neuneinhalb Jahren. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, da noch Berufung eingelegt werden kann. Die Familie des Opfers war – verständlicherweise – nicht mit dem aus ihrer Sicht zu milden Urteil einverstanden, während die Verteidigung auf eine wesentlich geringere Strafe plädiert hatte. Also müssen wir abwarten, ob sich dort in den nächsten Tagen noch etwas tut.
Zur aktuellen Berichterstattung ist meine Zeichnung jetzt auch zu online finden und heute auch wieder in der Printausgabe.

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Ein Kommentar zu “Am/Im/Bei Gericht

  1. […] und habe dort als Gerichtszeichnerin gearbeitet. Wie es dazu kam, könnt ihr hier lesen: https://nessi6688.wordpress.com/2013/10/18/amimbei-gericht/ Dort findet ihr auch mehr Skizzen aus dem Saal. Mehr Bilder, Skizzen auf: […]

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